RUHR.2010: Wo ist Zuhause?

Premiere – „Draußen vor der Tür“ – Schloss-Spiel-Ensemble – 21.11.2008 19.00 Uhr

Am 61. Jahrestag der Uraufführung von „Draußen vor der Tür“ hat dieses Stück Premiere zu dem Ereignis Kulturhauptstadt 2010. Trotz Unwetterwarnung finden viel Besucher in die Aula des Albrecht-Dürer Gymnasiums.

Hier folgen Fotos, wie man sie selten von einer Premiere sieht, nämlich versteckte Blicke von Nadja Gruhn hinter die Kulissen – das Schloss-Spiel-Ensemble intim.

Szenenfotos von Bernd Müller:

 

Premierenbesprechung von Jan Pfennig:

„Ich bringe Ihnen die Verantwortung zurück.“

Schloss-Spiel-Ensemble zeigt Borcherts „Draußen vor der Tür“

Eine Möglichkeit der Aktualisierung von Vergangenem boten Dr. Peter Schütze und die Schauspieler der Hohenlimburger SchlossSpiele am 21.11.2008 mit Borcherts „Draußen vor der Tür“ (1947) im Albrecht-Dürer-Gymnasium. Diese Inszenierung beschränkt sich nicht nur auf die Tragik der Kriegsheimkehrer nach 1945, sondern Peter Schütze lässt Borcherts Beckmann in melancholischen, ironischen und wütenden Passagen die Stationen der Verleugnung individueller und kollektiver Erfahrung zeigen. Thomas Mehl, Lehrer des AD, setzte die Schauspieler ins angemessene Licht. Der Freundeskreis Hagen-Smolensk zeichnet verantwortlich für dieses Hagener Projekt „Wo ist Zuhause?“  der RUHR.2010 Kulturhauptstadt Europas.

Adam Hildenberg bringt den melancholischen Grundton in der mal wütenden, mal zweifelnd resignierenden Figur Beckmanns auf jedem Quadratzentimeter der Dürer-Bühne sehr überzeugend zum Ausdruck. Analog der aufgeworfenen Frage, die aus dem Ringen der Hauptfigur mit den gesellschaftlichen Instanzen hervorgeht, gestaltet Schütze die Bühne motivisch: Ein mittig platzierter Steg vor dem Hintergrund einer hellen Lichtbahn zwischen dunklem Vordergrund bricht ab. Welche Lehre entnehmen die Menschen den Soldatenschicksalen und können sie eine Zukunft gestalten, in der sie ein würdiges Leben in Verantwortung dem Nächsten gegenüber führen? Wer aber baut den Steg weiter? Wie müsste er weiter begangen werden? Auf diesem Symbol für den Weg der Erinnerung aus dem Dunkel ins Licht treten Gott, exzellent von Peter Schütze interpretiert, und die Figur des Anderen, hervorragend gespielt von Michael Creutz, aber auch der Tod, Sven Söhnchen, auf die Bühne. Frau Kramer wird von Nadja Gruhn bestechend in Hamburger Dialekt spitzzüngig dargeboten, ebenso die „Elbe“ in stimmigem Kostüm. Sie alle symbolisieren, worum es gehen muss, klagt einer sein Schicksal unter den Menschen an. Ein Lebensweg von Kälte, Schmerz, Gewalt und Tod, aber auch ein Weg der Liebe zum Leben, dem Willen zum Überleben, der Freude an der Lebendigkeit, wie es das Ringen Beckmanns zwischen Selbstaufgabe und Neuanfang deutlich zeigt, wie es Borchert in seinem Text „Das ist unser Manifest“ für die Literatur seiner Zeit formulierte: „Unser Manifest ist die Liebe. Wir wollen die Steine in den Städten lieben, unsere Steine, die die Sonne noch wärmt, wieder wärmt nach der Schlacht.“

Die Hauptfigur kollidiert mit den Strategien der Leugnung, die das Trauern und den Schmerz von Erinnerung nicht zulassen. Was einst die Mitscherlichs mit der „Unfähigkeit zu trauern“ (1967) veranschaulichten, sind Verhaltensmuster, die Erinnerung und Fragen im Kontext der Vergangenheit kollektiv tabuisieren und angesichts der ausgesprochenen Schuldfrage verdrängen. Im Kern handelt das Stücks von der gestalterischen Kraft der Erinnerung – eben gerade, weil diese Kraft nicht in Erscheinung tritt. Indem Beckmann von denen abgewiesen wird, die die Zukunft definieren, bleibt ihm nur ein Platz: Draußen vor der Tür – konsequent und allerorts. Lediglich das brillant von Ariane Raspe gespielte „Mädchen“ klagt die Gemeinsamkeit der biographisch Verstümmelten ein. Mit ergreifender Intonation lässt Raspe das Sprechen des Mädchens, die Entäußerung von Denken im Ton und im Wort, dem verzweifelten Kampf Beckmanns ebenbürtig erscheinen. Die beiden Figuren sind zu einem tragischen Paar verbunden. Ihre Verbindung aber, das ist die doppelte Tragik, bleibt uneinlösbar. Die Menschen tragen ihr Schicksal in Einsamkeit, das Trauma bleibt eingeschlossen.

Äußerlich stigmatisiert ihn die Gasmaskenbrille, innerlich ist er zerbrochen durch die Lebenserfahrungen: So bleibt Beckmann nur der beharrliche Blick durch dieses Kriegsutensil, denn die Erinnerung will nicht verschwinden, das Trauma muss verarbeitet werden. Diese Blickrichtung  stellen Adam Hildenberg und „sein“ Mädchen unter die Haut gehend dar, während die Facetten der Verleugnung durch ein Fratzenkaleidoskop der Typen eine durch Konsens gestützte Definition von Opferrollen weiterführen. Auch diese Rollen sind von Peter Schütze mit Spuren der Menschlichkeit ironisch in ihrem Versagen gezeichnet worden. Hilflosigkeit, Verweigerung und der Charme einer rabiaten Gefühllosigkeit im Sinne des „hart angefasst“ -Werdens (der Oberst) verwehren Beckmann den Zutritt zur „geschlossenen Gesellschaft“ (Sartre) und er verzweifelt bei einem seiner Versuche Anschluss zu finden: „Einmal muss man doch irgendwo eine Chance bekommen.“

Beckmann, das Synonym für den einen der Kriegsheimkehrer von denen, scheitert an einer Vergangenheit, die in die Gegenwart verzerrt verlängert wird, denn auch ihn hat man mit Schuld beladen – „Ich bringe Ihnen die Verantwortung zurück“. Träume und Phantasmen ragen in die Realität, sind Bestandteil seiner Wahrnehmung. Handelt es sich bei Verdrängung um ein menschliches Grundmuster? Diese Frage bleibt aktuell, sie zeigt die Leistung Borcherts das Thema der Ausgrenzung zum Theaterklassiker gemacht zu haben und der junge Adam Hildenberg stellt diese Problematik mehr als überzeugend dar. Peter Schütze und das SchlossSpielensemble zeigt diesen aufrüttelnden Klassiker „spielend“ in überzeugender, ergreifender Darstellung. „Gerade für die Jugend ist die Thematik unentbehrlich, wenn sie aus der Geschichte für die Zukunft lernen wollen“, so äußerte sich Monika Sinn, Lehrerin des THG, die ihren Literaturkurs motivieren konnte, an diesem Freitagabend lebendiges Schauspiel zu erleben. Verantwortung jedenfalls muss oft eingeklagt werden – das können die Jugendlichen daraus lernen.

Der Freundeskreis Hagen-Smolensk präsentiert dieses Stück als RUHR.2010- Projekt. „Es ist wichtig, diesen Stoff mit professionellen Schauspielern in Hagen zu zeigen und das Ensemble wird damit in Smolensk gastieren und damit die Verbundenheit zu Russland unterstreichen“, so Hans-Werner Engel.

Dieses Kulturprojekt mit Tiefgang muss eine breite Öffentlichkeit in Hagen erhalten und die Menschen werden erkennen, welch großartige Leistungen Künstler in Hagen auf die Bühne erbringen. Warum kauft das Hagener Theater teure Tourneebühnen ein, wenn wir vor Ort selbst hervorragende Angebote haben?

Begeistert jedenfalls hat sich Peter Mook geäußert, der vom Anspruch dieses Kulturprojektes und seiner zu leistenden Würdigung überzeugt ist.

 Jan Pfennig (Bochum)

Theaterprojekt „Wo ist Zuhause?“ – Schloss-Spiel-Ensemble Hohenlimburg

            „Wo ist Zuhause?“ von Wolfgang Borchert

Premiere, 21.11.2008, 1900 Uhr, Albrecht-Dürer-Gymnasium, Hagen, Heinitzstr.73,

mit:

 

BECKMANN, einer von denen

Adam Hildenberg

seine FRAU, die ihn vergaß

Vanessa Topf

deren FREUND, der sie liebt

Peter Manteufel

ein MÄDCHEN, dessen Mann auf einem Bein nach Hause kam

Ariane Raspe

ihr MANN, der tausend Nächte von ihr träumte

Thomas Schnug

ein OBERST,  der sehr lustig ist

Peter Schütze

seine FRAU, die es friert in ihrer warmen Stube

Ursula Otto

die TOCHTER, gerade beim Abendbrot

Vanessa Topf

deren schneidiger MANN

Peter Manteufel

ein KABARETTDIREKTOR, der mutig sein möchte,

                                                         aber dann doch lieber feige ist

Horst Lappöhn

Frau KRAMER, die weiter nichts ist als Frau Kramer, und

                                 Das ist gerade so furchtbar

Nadia Gruhn

der ALTE MANN, an den keiner mehr glaubt

Peter Schütze

der BEERDIGUNGSUNTERNEHMER mit dem Schluckauf

ein STRASSENFEGER, der gar keiner ist

Sven Söhnchen

der ANDERE, den jeder kennt

Michael Creutz

die ELBE

Nadia Gruhn

 

 

INSZENIERUNG

Peter Schütze

BÜHNENTECHNIK/LICHT

Thomas Mehl

                                                          

Das „Schloss-Spiel-Ensemble“:

 

Szenenfotos von den ersten Proben:

 

Theaterprojekt „Wo ist Zuhause?“ – Fördervertrag

 Die RUHR.2010 GmbH und der Freundeskreis Hagen-Smolensk schließen Fördervertrag ab

Am 19. September 2008 unterschrieben die Vertreter der RUHR.2010 GmbH, Herr Dr. h.c. Fritz Pleitgen sowie Herr Prof. Oliver Scheytt und der Vorsitzende des Freundeskreises Hagen-Smolensk, Hans-Werner Engel, den Vertrag zur Förderung des Kulturhauptstadt-Projektes “Wo ist Zuhause?”. Der Förderbetrag beläuft sich auf 33,9 Prozent der kalkulierten Ausgaben.

Es ist der erste Vertrag, den die RUHR.2010 GmbH mit einem Projekt-Partner abgeschlossen hat.

Wir freuen uns sehr über die Förderung unseres Projektes und danken der RUHR 2010 GmbH schon jetzt für die gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit!

Die Premiere des Schauspiels von Wolfgang Borchert “Draußen vor der Tür” durch das “Ensemble der SchlossSpiele Hohenlimburg” unter der Regie von Dr. Peter Schütze wird am Freitag, 21. November 2008, 19.00 Uhr in der Aula des Albrecht-Dürer-Gymnasiums sein.  Der Vorverkauf für diese Veranstaltung beginnt am 20. Oktober 2008. Über “Kontakt” auf dieser Seite können sie Ihre Karten reservieren lassen. Auf weitere Vorverkaufsstellen wird später hingewiesen.

Damit beginnt nach den Aufführungen durch das Smolensker Studententheater “MIRACLE” in Hagen, Marl und Gerolstein der zweite Teil dieses Projekts, das mit der letzten Vorstellung in der Woche von 19. bis 15. Juli 2010 als einer der Höhepunkte des Kulturhauptstadt-Geschehens in Hagen endet.

Freundeskreis Hagen-Smolensk ist offizieller Partner der RUHR2010-Kulturhauptstadt Europa

Das Projekt „Wo ist Zuhause?“ mit den Aufführungen des Borchert-Stücks „Draußen vor der Tür“ durch das Studententheater „MIRACLE“ aus Smolensk und die Theatergruppe um den Regisseur Dr. Peter Schütze ist als „TWINS-Projekt“ genehmigt. Neben zwei anderen Projekten („Zäune“, Theater Hagen – Werner Hahn, Frau Opielka) vertreten wir unsere Stadt Hagen bei den Kulturhauptstadtaktivitäten.

Wir freuen uns sehr darüber und danken schon jetzt allen Spender, Förderern und Unterstützern für geleistete Hilfe.

„Das Leben ist die Antwort“ – Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 1984

Wolfgang Borchert: „Draußen vor der Tür“

Text: Dr. Peter Schütze

Kein Zweifel: Dieses Stück, in dem das Leben über den Rand der Verzweiflung zu stürzen scheint, hat überlebt. Noch heute, unter ganz anderen Bedingungen, ist viel von der heftigen Erregung und Erschütterung zu ahnen, die von der Uraufführung ausgegangen ist. Borchert war der erste seiner Generation gewesen, der auf dem Theater seine Stimme wiederfand; er hatte die verzagte Stummheit überwunden. Dabei konnte er, als „Draussen vor der Tür“ am 21. November 1047 in den Hamburger Kammerspielen gezeigt wurde, selbst nicht mehr sprechen; Borchert war tags zuvor, sechsundzwanzigjährig, im Baseler Clara-Spital gestorben, an Leiden, die durch Kriegsdienst, Gefängnis, Ausharren in einer Nazi-Todeszelle unheilbar geworden waren.

Weit über hundert Inszenierungen des Stückes lassen sich allein seit 1957 zählen; über die erste Zeit geben die Archive keine genaue Auskunft. Film und Fernsehen bemächtigten sich des Stoffes;  Tourneetheater trugen das Drama durch die Städte. Es erreichte seine Zuschauer nicht nur in der Bundesrepublik, der DDR, Österreich und der Schweiz; ich habe Aufführungen in Holland und Belgien, in Paris, Warschau, Helsinki und Lissabon verzeichnet gefunden. Seit Mitte der Siebziger Jahre häufen sich die Einstudierungen.

Dieses erstaunliche Echo gilt einem Stück, das, will man seinem Untertitel glauben, „kein Theater spielen und kein Publikum, sehen will“. Doch hat Borchert schon einiges von der Wirkung spüren dürfen, die von seinem einzigen Bühnenwerk ausgehen sollte. Ernst Schnabel, der Chefredakteur des WDR, hatte die Hörspielfassung ins Programm genommen. Die Ursendung konnte Borchert wegen einer Stromsperre in seinem Stadtviertel nicht hören, aber der Widerhall war so stark, daß das Hörspiel in kurzer Frist mehrfach wiederholt werden mußte. Borchert wurde mit Briefen überhäuft; des Andrangs von Besuchern, die Ähnliches erlebt hatten und deren Nerv getroffen war, mußte der todschwache Dichter sich schließlich erwehren. Trotzdem war es keine Koketterie zu meinen, daß das Publikum und die Theater sich dem Werk versperren würden. In einer Szene des Stücks stellt die Hauptfigur, der eben aus Sibirien nach Hamburg heimgekehrte Unteroffizier Beckmann, sich einem Kabarettdirektor vor. Er wird abgelehnt; die Schmerzen der Zeit sollen nicht selber sprechen, sondern mit Spaßmacherei gestillt werden: „Mit der Wahrheit macht man sich nur unbeliebt. Wer will denn heute etwas von der Wahrheit wissen?“

Ein Kritiker, der die Zeit miterlebt hatte, schrieb 1981 nach einer Darmstädter Aufführung: „Daß damals im Chaos zertrümmerter Städte jeder, der den Massenmord überstanden hatte, nur an sich dachte, denken mußte, war Realität.“ Ein „Moralist“ wie Beckmann werde in dieser Wirklichkeit zur seltsamen Gestalt, zur „tragikomischen Figur“. Auch der Literaturgeschichtler Karl S. Guthke sah den tragikomischen Zug des Stückes, das er im Übrigen als ein „ziemlich infantiles, von Selbstbemitleidung triefendes Zeitdokument einer enttäuschten Generation“ abtat. Das harsche Urteil teilt sicher mehr über den Geist und die politische Abwehrfähigkeit dieses literarischen Richters mit als über Borchert, und vielleicht war es auch das Klima solcher Verdrängung, das der „enttäuschten“, fassungslosen Generation den Mund verschlossen hatte – den Borchert nun auftat. Freilich, „das Leben geht weiter“, und , wer überleben will, macht es sich am leichtesten, wenn er Moral Moral sein läßt und rasch zu den praktischen Tagesdingen übergeht – wie der Oberst in Borcherts Stück: Befehl war BefehI und wer dem skrupuIös nachhängt, macht sich nur die Zukunft schwer. Mit dem Vergessen und Verdrängen hatte Borchert gerechnet; dagegen stemmt sich Beckmann. „Draußen vor der Tür“ ist keine Abrechnung, Beckmann war kein Ankläger. Er stellte in seiner Hoffnungslosigkeit peinigende Fragen an die Welt, vielleicht unbeantwortbare, weil seine Situation ausweglos schien; denn „das Leben selbst ist die Antwort“, wie Borchert in einem Brief‘ schrieb. Beckmann verschaffte denen eine Stimme, die nicht einfach vergessen und verdrängen konnten.

In den Gedächtnis-Veranstaltungen zum 8. Mai ist wieder die Frage erhoben worden, ob das Kriegsende als „Kapitulation“ oder als „Befreiung“ begriffen werden müsse. Diese Alternative selbst ist ein Versuch, bloß historisch zu objektivieren; die Fragestellung bereits distanziert sich von der Erlebniswucht des einzelnen Menschen. Aber auch hier hat Geschichte ihren Ort, zwischen den Quadern politischer Erkenntnisse und Entscheidungen. Was denn, wenn die am eigenen Leib, mit eignen Sinnen erfahrene Vergangenheit des Krieges sich wie ein Alp auf die Gegenwart legt? Wenn x man sich, wie der Unteroffizier Beckmann, am Tode von elf Soldaten schuldig fühlt, weil man „Verantwortung“ übernommen und einen Durchhalte-Befehl ausgeführt hat?

Lebensnotwendig freilich ist das einfache positive „Ja“, das im Stück Beckmanns alter ego, der „Andere“ sagt, die Ermunterung weiterzuleben, weiterzumachen. „Draußen vor der Tür“ ist kein Plädoyer für den Selbstmord. Es wird, wie in Borcherts letztem Manifest NEIN gerufen, weil zu viele schon wieder Ja sagen. Die Jas, das Lebenwollen, hindern den Verzweifelnden an der Selbstvernichtung. Die EIbe spuckt den Selbstmörder wieder aus; ein Mädchen nimmt den Triefenden mit nach Hause. Es gibt Möglichkeiten für Beckmann, doch das Stück Iäßt keine Menschlichkeit gelten, die die schreienden Zweifel, die die nächtlichen Traumqualen als bloße Schwäche abtut. Nein! – damit das Ja nicht pausbäckig wird. Die Frage „Wie können wir leben“, vielleicht die Grundfrage der gesamten Dramatik, wie können wir über den Gräbern von Hekatomben von Opfern noch leben, bleibt als Problem bestehen. Borchert beharrt darauf, und er reicht sie uns weiter, über die Wohlstandsjahre hinüber. Da ist mehr als nur die Nachkriegssituation angesprochen; ihre besondere Unerträglichkeit allerdings macht, daß Beckmanns verhallende Fragen sich an die Welt im ganzen richten, an eine Welt, deren Gott versagt haben muß: ein alter hilfloser Mann, so tritter im Stück auf, schmächtig gegenüber dem fett gewordenen Tod, dem „Beerdigungsunternehmer:‘ und „Straßenkehrer“ (dessen Bild als Müll-Beseitiger das ‚Wirtschaftswunder‘ und seine Nachtseiten visionär vorausnimmt).

Ein Heimkehrer kehrt heim, kriegs-beschädigt, mit seiner Gasmaskenbrille eine groteske Figur, fremd in der neu sich etablierenden Welt. Er kommt heim und findet kein Zuhause. Die Wohnung seiner Frau ist bereits von einem anderen Mann besetzt. Andere Türen öffnen sich durchaus, man ist wohl bereit, ihm zu helfen, aber nicht in seinem Sinn. Hinter den Türen ist Zukunft. Aber was ist das für eine Zukunft, hinter der die Türen zu sind? Die Tür ist ‚“die Schwelle zwischen Eingesperrtsein und Ausgesperrtsein. Beckmann ist drinnen aus-, draußen eingesperrt. Er kommt nichts ins Heimische, ein Gefangener freilich auch seiner selbst, der Selbstzufriedenheit nicht finden kann. Peter Rühmkorf spricht in seiner Borchert-Monographie von einem „im Grunde romantiscl1en Ausnahmezustand“ und schreibt über Beckmann, daß ihm der Friede nicht geraten sei, „weil er an der eigenen Friedlosigkeit scheitert.“ Es geht hier allein um das Subjekt, das in Gefahr gerät sich aufzugeben, gerade weil es sich, seine Ansprüche nicht aufgeben will; der Moralist tat nichts anderes, als dem neuen Phönix die Flügel mit der Gewissensfrage wieder anzusengen. Auf diese Weise ist Borchert zum Sprecher der Jugend von 1945 geworden, die vaterlos zwischen den Ruinen der Häuserzeilen und einer zusammengebrochenen Überideologie herumirrte und neue Orientierung suchte.

Nicht die an expressionistischen Vorbildern wie Tollers „Hinkemann“ geschulte Form des Dramas, nicht die Technik der Stationen, die durch eine einzelne Figur – Beckmann – verbunden werden, machte den Erfolg des Stückes aus. Formal, ästhetisch interessant ist allenfalls die musikalische Struktur, die die Sprache mit ihren Motivverkettungen und Wiederholungen durchdringt und sich in einem Traumfinale, in dem alle Stimmen nochmals Revue passieren, erfüllt: In der Musik, nicht in der Dramaturgie des Werkes zündet die Erregung, die das Stück mitteilt. Die Kraft des unmittelbaren Erlebens wirkt in der Beckmann-Figur; hinter ihr treten die Schwächen des Stücks, die altmodische Bauart, der allegorische Spuk zurück.

Daß hier das Geheimnis von „Draußen vor der Tür“ stecke, daß es nur „über den unmittelbaren Eindruck“ funktioniere, auch über die Zeiten hinüber, sagt auch Hans Quest, der Beckmann des Hörspiels und der Uraufführung. Ihm hatte Borchert das Stück gewidmet, nachdem er die Sendung gehört hatte; und die Rolle und die Begegnungen mit Borchert haben Quests Leben mitgeprägt. Auch er hatte, wie Borchert, 6 Jahre Krieg hinter sich; und was dieser Autor schrieb, hallte im Schauspieler sofort wieder: „Das Stück“, sagte Quest zu mir, „fiel aus mir raus.“ Die Xylophon-Vision, dies grause Traumbild vom General, der auf den Knochen der Kriegstoten aufspielt, hält Quest für eine „Jahrhundertdichtung“. Jeden gehe an, was Borchert erlitten habe und in diesem seinem „Requiem“ schreiben mußte. Das Stück sei einzig „vom Blatt“ zu spielen, erlaube keine Konzeptveränderungen; es lebe „aus der Kraft des Wortes“ und verlange nach knappen Bühnentiteln: Licht, Schrägen, Prospekte. Der Erfolg sei abhängig davon, „wie glaubhaft ein Schauspieler Beckmann personifiziert“. Die Sprache fließe von einem Satz in den nächsten; die Impulse des Stromes seien „Fieberstöße“. „Es muß gespielt werden aus dem heißen Herzen“ – eine Wiederbelebung als Lesung, die mir gegenüber eine junge Regisseurin des Schauspielhauses für möglich hielt, da nur das Dokument zu retten sei, lehnt Quest lebhaft ab. Alle Stilisierung sei verboten. Wer sich aber auf die Identifizierung einlasse, werde immer wieder erfahren, welche Lebenskraft das Stück 1n sich bewahre: „Aus dem innersten Grund kommt so viel Wahres und Unverrückbares, und das hält sich.“

1972 hatte Quest das Stück für ein Schweizer Tourneeunternehmen inszeniert, mit Uwe Friedrichsen als Beckmann. Friedrichsen erinnert sich daran als an seine „vielleicht erfolgreichste“ Gastspielreise; ganze Schulklassen hätten sich in seine Garderobe gedrängt und, tief betroffen, Fragen gestellt.

Außer Quest und Friedrichsen haben sich noch viele gute Schauspieler den Beckmann zueigen gemacht; Robert Graf, Karl John, Heinz Reincke und Hannes Messemer sind darunter. Rudolf Noelte inszenierte das Stück 1957 mit Paul Edwin Roth im Fernsehen. Eine allerdings fragwürdige Filmfassung entstand bereits 1949 unter der Regie von Wolfgang Liebeneiner, der auch die Uraufführung geleitet hatte. Der Titel „Liebe ’47“ gibt bereits die Tendenz der Veränderung an. Der Heimkehrer Beckmann will gleichzeitig mit einer jungen Frau in die Elbe steigen; beide halten sich gegenseitig am Leben; die Figur des „Mädchens“ ist zur Hauptrolle aufgewertet worden (Hilde Krahl-Liebeneiner). Von der Rahmenhandlung aus werden die Stationen des Stücks als Retrospektiven hochgeholt, aufgeschwemmt durch klischeehafte biographische Erweiterungen. Die Traumsequenzen sind heute kaum mehr erträglich. Allein Karl John, der Darsteller des Beckmanns, der den Nazis selber nur um Haaresbreite entkommen war, vermittelt den Ausdruck des originalen Stückes. Auf seine bangen, zerrenden Fragen gab Lieheneiner die Antwort: Beckmann braucht eine Beckfrau.

Über den Wert der individuellen Liebe war Borchert sich sehr im klaren, aber er hob seine Fragen darin nicht auf. Und es sind gerade die Fragen, die das Stück, über alle Heimkehrer-Problematik hinaus, am Leben erhalten. Das Stück ist nicht da, seine Zuschauer zu trösten, sondern ihren eigenen Zweifel wachzuhalten und ihr Mißtrauen in die Würde der Welt nicht seelischer Verfettung aufzuopfern. Auch in unserer weltpolitischen Lage gibt es Anlässe genug, nach dem Sinn zu forschen. Diesen Drang transportiert „Draußen vor der Tür“ über die Jahre, und nicht nur für die jeweilige Jugend-Generation.